Stipendien

Quo Vadis Geschosswohnungsbau

Der Essener Architekt Jan Sebastian Kutschera wird seit 2018 von der Stiftung Deutscher Architekten in seinem Promotionsvorhaben unterstützt. Er promoviert über das Thema Geschosswohnungsbau. – Erster Zwischenbericht.

01.01.2018

Deutsche Großstädte wachsen seit einer Dekade rapide bei gleichzeitig fortschreitender Atomisierung der Bewohnerprofile (Senioren, Singles, Wohngemeinschaften, Patchworkfamilienverbünde, Wohnen und Arbeiten unter einem Dach usw.). Als Folge dessen erleben aktuell zahlreiche deutsche Städte eine starke Wohnbautätigkeit und großflächige Erneuerung des Geschosswohnungsbestandes. Interessanterweise verläuft diese Bautätigkeit jedoch weitestgehend ohne eine in den Medien präsente, fachliche Diskussion zur Frage der Wohnbedürfnisse und zu aktuellen Anforderungen an die räumlich-grundrissbezogenen Wohnqualitäten sowie zu Fragen des Gebäudeausdrucks und dem Verhältnis des Gebäudes zur Stadt, analog zu jenen Diskussionen in der Deutschschweiz.

Die Vielfalt der Bewohnerprofile und die daraus abgeleiteten unterschiedlichen Wohnbedürfnisse werden in aktuellen Wohnbauten nicht widergespiegelt; die überwältigende Mehrheit der aktuell entwickelten Wohnbauten verharrt in bekannten Wohnformen „ZiKüDiBad“. Räumliche Beziehungen der Zimmer untereinander, welche unterschiedliche Belegungen der Räume und eine vielfältige Nutzung der Wohnungen zulassen würden (beispielsweise zuerst als Kinder-/WG-Zimmer, dann etwa als Home-Office/Gästeraum/ausgegliederte Studiowohnung o.ä.) sucht man vergebens.

Angesichts der aktuellen Herausforderungen im Wohnungsbau zeigt der Blick auf die für den Wohnungsbau sehr fruchtbare, experimentierfreudige und vielfältige Nachkriegszeit, dass sich verändernde gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Lebensweisen einen starken Einfluss auf die Wohnarchitekturen haben können.

Das Wohnen unterliegt während der großflächigen Erneuerung des Wohnungsbestandes der Nachkriegszeit starken gesellschaftlichen Veränderungen und sich wandelnden Ansprüchen. Der wirtschaftliche und motorisierte, rapide Wandel der Gesellschaft ermöglicht eine präzedenzlose Individualisierung und Vervielfältigung der Lebensentwürfe. Die daraus erwachsenden Veränderungen der Wohnmöglichkeiten und -vorstellungen prägen zu jener Zeit das räumlich-plastische Schaffen der nordrhein-westfälischen Architekten (O. M. Ungers, R. Link, W. Brune u.a.) und kulminieren in Verner Pantons fantastischer Wohnlandschaft „Visiona II“ im Rahmen der Kölner Möbelmesse 1970. Diese entwerferische Experimentierfreude bildet einen fruchtbaren Hintergrund für die wohnungsbauenden Architekten der Nachkriegszeit, deren Schaffen ein vielfältiges und an Raum- und Wohnkonzepten reiches Erbe hinterlässt. Diese fruchtbare Schaffensperiode geht erst mit der Öl- und anschließenden Wirtschaftskrise der 1970er Jahre zu Ende.

Nordrhein-Westfalen ist das Zentrum des politischen, wirtschaftlichen und baulichen Geschehens in der Nachkriegszeit der Bundesrepublik. Nach der ersten Phase des bereits gut dokumentierten existenzsichernden Wohnungsbaus der frühen Nachkriegszeit entstehen in Nordrhein-Westfalen – und vorwiegend in den Städten des Rheinlandes – ab Mitte/Ende der Fünfzigerjahre Wohnungsbauprojekte, welche statt der reinen Wohnraumbeschaffung vielmehr die Grundriss- und Ausdrucksqualitäten der Gebäude und ihrer Beziehungen mit dem umgebenden Stadtraum in den Vordergrund stellen.

Die Vielfalt und die architektonische Qualität dieser von Architekten meist ortsspezifisch entwickelten Wohnprojekte ist bisher für das Land NRW noch nicht zusammengetragen worden. Dieses reichhaltige Architekturerbe sichtbar zu machen und einzuordnen, ist Thema meiner Promotionsarbeit.

Der Fokus der Sammlung wird auf jenen „bunten“, elaborierten und von Architekten sorgfältig geplanten Bauten im städtischen Kontext liegen, welche in ihrer architektonischen Gestalt zur Stadt sowie in der Grundrissstruktur eigenständige Beiträge zum Wohndiskurs der Nachkriegszeit anstreben. Die Forschungsarbeit wird den architektonischen Lösungsreichtum des Wohnungsbauerbes der nordrhein-westfälischen Nachkriegszeit sammeln, aufbereiten und einordnen. Sie wird wichtige Wohnbauten mithilfe umfassender Projektdokumentationen und -analysen untersuchen und das breite, vielfältige Feld entwickelter Entwurfskonzepte sichtbar machen.

Das Ziel der Forschungsarbeit ist es, die Fülle der architektonischen und konzeptionellen Lösungen nordrhein-westfälischer Wohnbauprojekte aufzuzeigen, sie in den zeitgeschichtlichen Kontext einzuordnen und mithilfe dieser Promotion die vielfältige Wohnbauarchitektur des Landes in der europäischen Architekturgeschichte zu verankern.

Jan Sebastian Kucera, 01.01.2018