Stipendien

Betrachtungen zum Wohnhaus von Carlfried Mutschler

Alexander Bartscher wird seit 2014 von der Stiftung Deutscher Architekten als Stipendiat bei seiner Promotion unterstützt. Er promoviert über den Mannheimer Architekten Carlfried Mutschler. – Zweiter Zwischenbericht.

02.04.2015

Nach einer sehr weit gefassten Einführung zu den Arbeiten von Carlfried Mutschler im Aprilheft des letzten Jahres möchte ich den Fokus diesmal bewusst begrenzen und lediglich von einem Bauwerk ausgehend weitere Themenfelder aufzeigen. Das eigene Haus eines Architekten erlaubt beinahe zwangsläufig einen umfassenden Einblick in die Gedankenwelt seines Erbauers. Und so glaube ich, dass auch das Stadthaus in E7,7 einen guten Ausgangspunkt für die Betrachtung der früheren Arbeiten von Carlfried Mutschler darstellen kann. Eine Vielzahl von entwurflichen Gedanken, die spätere oder auch gleichzeitig entstandene Bauten prägen, lassen sich schon auf dem Experimentierfeld des eigenen Wohnens ausmachen.

1958 inmitten des Mannheimer Stadtzentrums, den von Kriegsschäden schwer gezeichneten Quadraten, eine Baulücke zu erwerben und für sich als Atelier und Wohnhaus zu bebauen, ist für einen Architekten in Wirtschaftswunderdeutschland keine Selbstverständlichkeit, auch wenn man finanzielle Anreize durch städtische Wiederaufbauprogramme in Betracht zieht. Entgegen dem Zeitgeist funktionalistischer Stadtplanung entscheidet sich Mutschler für ein genuin urbanes Lebensmodell.

Das Haus an der Porte Molitor, Rue Nungesser et Coli 24 von Le Corbusier, das dieser seit 1933 für sich nutzte, darf wohl als der Prototyp eines städtisches Habitats für einen „modernen“ Architekten und seine Frau, keine Kinder, angesehen werden. (Corbusiers typologischer Rückgriff auf seinen Lehrer Perret dürfte für Mutschler keine Rolle gespielt haben.) Schon diese Bezugnahme auf Corbusier kann als Emanzipation von Lehre und Prinzipien des stets verehrten Professors, Egon Eiermann, der sich ungefähr zeitgleich sein bekanntes Haus im Grünen in Baden-Baden errichtet, verstanden werden. Das ganze Haus in E7 strebt viel eher in die Richtung expressiver Plastik des späteren Corbusiers, als dass es die kunstvolle Fügung autonomer Teile in ausgetüftelten Details gemäß Karlsruher Lehre zelebrieren würde.

Fassade und Plastik

Der charakteristische Aufriss der Straßenseite des Hauses ist von einer klaren Gliederung in zwei übereinander lagernden Zonen geprägt. Ein liegendes Rechteck im Verhältnis des goldenen Schnittes bildet über zwei Geschosse hinweg den Sockel und markiert somit den gewerblich genutzten Teil des Hauses. Die Erscheinung des Hauses ist hier bis auf die konstruktiv notwendigen Elemente des Stahlbetonskelettes ausgedünnt. Einzig die kräftige, aufgedoppelte Horizontale oberhalb des Erdgeschosses tritt vor die Stützenebene der Fassade und ist somit ablesbar aus dem strukturellen Gefüge herausgelöst. Einem fast schon klassischen Architekturverständnis folgend, ist dieses Element primär als optisches Gewicht in der Komposition von Bedeutung. Sie nimmt ganz unmittelbar Bezug auf die Höhen der Sockelgesimse der gründerzeitlichen Nachbarbebauung und bindet den strikt modernen Bau somit wie selbstverständlich in den Straßenraum ein.

Konsequenterweise ist die obere, breitere Horizontale nicht nur als reines Architekturglied, sondern auch als autonome Plastik des mit Mutschler eng befreundeten Bildhauers Otto Herbert Hajek lesbar. Durch die Tiefe des Reliefs und der schrundigen Oberfläche der Hajekschen Plastik entsteht wiederum eine Annäherung an die Körnung und Struktur der Nachbarn.

Proportionen und Tektonik

Über diesem Sockel nun erheben sich die drei zu einer präzise quadratischen Fläche zusammengezogenen Wohngeschosse. Gesamtheitlich bildet die Straßenansicht somit ein Rechteck, das exakt den Verhältnissen des goldenen Schnittes entspricht. Ob diese sorgfältige Proportionierung Mutschlers plastischem Empfinden, einer ansonsten weitgehend geheim gehaltenen Liebe zur Geometrie, oder auch einer eingehenderen Beschäftigung mit Corbusiers Modulor entspringt, wird noch der Gegenstand weiterer Studien werden müssen. Mit einiger Sicherheit jedoch deutet sich an, dass die reine Form des Quadrats für Mutschler offenbar von einer besonderen Bedeutung gewesen sein muss.

Nicht nur wird es hier am eigenen Wohnhaus sehr bestimmt herausgearbeitet – immer wieder finden sich im Laufe seiner gesamten Schaffenszeit Beispiele für eine solche Betonung. Am prominentesten sind hierbei wohl die beiden Kirchen, die ungefähr in derselben Periode wie das Wohnhaus entstehen.

Im Falle des Wohnhauses wird das Quadrat mit einer räumlichen Komposition aus Geschossbändern, tiefen Fenstern, vorgeblendeten Betonteilen und – die ganze Erscheinung prägend – gelben Backsteinflächen in einen Zustand ausgewogener Spannung versetzt. Ob die Semper-Lektüre in Karlsruhe in Mutschlers Studienjahren auf dem Lehrplan stand, wird sich noch zeigen müssen; dass der Bau dessen Bekleidungstheorie im modernen Gewande mustergültig zum Vorschein bringt, wird seinem Verfasser aber wohl bewusst gewesen sein. Ganz ausdrücklich werden die Backsteinwände als Umhüllung des strukturellen Stahlbetongerüsts ausformuliert. Die bekleidende, textile Charakteristik des Werkstoffs wird an der obersten, linken Ecke durch das „Ausfasern“ der aus der Wandebene herausgelösten Mauerwerksfläche sogar explizit vorgeführt.

Das Motiv der einhüllenden, vorzugsweise gelben Backsteinwand zieht sich in der Folge als Leitfaden durch Mutschlers Arbeiten bis in die späten siebziger Jahre hinein. Immer wieder sucht Mutschler nach Möglichkeiten, dieses Thema zum Ausdruck zu bringen. So wölben sich die Wände schon in seiner Friedrich-Ebert-Schule um die vorgelagerten Kamine, in der Kapelle am St. Elisabeth-Krankenhaus und dem Gemeindezentrum in Vogelstang dann verselbstständigen sie sich zu einer organischen, bergenden Form. In diesem Zusammenhang betrachtet, erscheint sogar die zusammen mit Frei Otto entwickelte gigantische Holz-Gitterschale der Multihalle als ein weniger singuläres Werk in Mutschlers Schaffen, als vielmehr als die konsequente Weiterentwicklung eines früh angelegten Gestaltungswillens.

Die Wohnung

Wie schon Le Corbusier in Paris sieht auch Mutschler das oberste Geschoss sowie die darüber liegende Dachterrasse des Hauses für die eigene Wohnnutzung vor. Die Wohnung in ihrer beschränkten Größe von kaum mehr als 75 m2 entspricht, gemäß dem Lebensmodell ihres Erbauers, nur beschränkt den bürgerlichen Konventionen. Oberstes Ziel der Planung war die Schaffung eines möglichst weitgefassten zusammenhängenden Großraumes, dessen funktionale Bespielung sich kurzfristig und ohne Aufwand variieren lässt. Kleine und große Gesellschaften waren bei Mutschlers eher die Regel als die Ausnahme. Funktionsbereiche wie Küche und Bad dagegen werden aufs Minimum reduziert, private Zimmer gibt es nicht.

Lediglich ein hölzernes Multifunktionsmöbel und die expressive, gemauerte Kaminplastik unterteilen den Wohnraum in unterschiedliche, miteinander verschleifende Raumzonen. Mobile Elemente, insbesondere die vom Maler Winfred Gaul gestaltete Schiebewand vor dem informellen Schlafbereich oder auch der aus dem Möbel herausklappbare Esstisch, sorgen für die gewünschte räumliche Flexibilität.

Die Wohnung ist stark von der in den Innenraum überführten Materialität geprägt. Fast alle Oberflächen inklusive Boden und Decke sind in rohem, ansichtigem Beton oder gelbem Mauerwerk ausgeführt und verleihen den Räumen durch ihre starke Präsenz einen fast höhlenhaften Charakter. Die schlitzartigen Öffnungen und Oberlichter in Wand und Decke vermögen diesen Eindruck sogar noch zu stärken.

In diesem Raumgefüge wird ausgerechnet der Aufstieg zum Außenraum als raumhoch umschlossene, nur zum Himmel offene Schneckentreppe ausgebildet. Dass dieses hermetische Bauteil freischwebend am Hause hängt, erschließt sich dem Besucher erst, wenn er die luftige Weite der plateauartigen Dachterrasse erreicht. Es sind solch starke räumliche Kontraste auf engem Raume, die der Wohnung eine große atmosphärische Dichte verleihen.

Mutschler selbst beschreibt im Vorwort einer ersten Werkausgabe des Büros seine Architekturen als „Versuche, an einem bestimmten Ort Gehäuse zu schaffen, Situationen zu artikulieren und sie plastisch auszuformen“. Ein solcher Versuch scheint beim Haus in E7 langfristig geglückt zu sein.

Alexander Bartscher, 2.5.2015

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