Stipendien

Gegenwart bauen

Im Rahmen seiner Promotion hat Stipendiat Stefan Rethfeld mit Unterstützung der Stiftung Deutscher Architekten systematisch das Leben und Wirken des Architekten Harald Deilmann aufgearbeitet. – Abschlussbericht

06.10.2013

Bauzeitliche Veröffentlichungen gab es zahlreiche, doch eine systematische Untersuchung des architektonischen Wirkens und Schaffens Harald Deilmann (1920 – 2008) stand bislang aus. Was prägte ihn? Wie hat sich das Werk entwickelt? Was zeichnete sein Schaffen aus? Was charakterisiert seine Bauten? Schon früh, zur Verleihung des Großen Kunstpreises des Landes Nordrhein-Westfalen 1962, wurde ihm eine „eigenständige Gestaltungskraft“ attestiert, sein künstlerisches Werk „beispielhaft für lebendige Architektur“ gehalten. Ob Schulen oder Kirchen, Rathäuser oder Wohnbauten: Zahlreiche seiner frühen Projekte werden derzeit geprüft und stehen gar zur Disposition, einzelne schon ersetzt. Um grundlegend jenen herausragenden Impetus sichtbar werden zu lassen, der sein lebenslanges Streben nach „Gestalt“ ausmachte, lag der Fokus der Arbeit auf der ersten Hälfte seines Werkes: Beleuchtet wurde die Entwicklung von den beruflichen Anfängen nach 1945 bis zum Einsetzen der Postmoderne.

Den Entschluss zum Architektenberuf fasste Harald Deilmann erst spät in amerikanischer Kriegsgefangenschaft: Fern der Heimat registrierte er die Zerstörung vieler Städte in Europa. Es ist der Zeichenstift, der ihn sodann tätig werden lässt, als Student in einer Lageruniversität. Er studiert zunächst nur seine triste Lagerumgebung, Windräder, Wachtürme, Hütten, Stacheldrahtzäune. Doch immer mehr auch den Blick in die dahinterliegende Landschaft, und mit dem Zeichnen übt er von Blatt zu Blatt den genauen Blick, das Fixieren des Elementaren – und sollte diesem Medium bis ins hohe Alter treu bleiben. Ungezählte Aquarellskizzen haben sich erhalten und führen ihm, dem Vielgereisten, stets abrufbar die Collage der Welt vor Augen, unterschiedliche Kulturen sichtbar gemacht durch die Architektur ihrer Orte. Mit dem Stift umreißt er das Unbekannte, das Schöne, das Erhabene, das Sehenswerte, aber auch die Unorte und den Alltag der bereisten Städte. Er will sehen, wie sich das Überlieferte und das Gegenwärtige ergänzen. Ihn drängt es, zu erkennen, zu erfahren, zu verstehen: welche Gestalt hat die Architektur ihrer jeweiligen Zeit?

Fast 1.700 verzeichnete Objekte

Als wesentliche Basis der Untersuchung stellte sich neben den realen Bauten sein umfangreicher Nachlass mit nahezu 1.700 verzeichneten Projekten dar. Diesen hatte Deilmann schon zu Lebzeiten als Vorlass übergeben – in großen Schüben an das Archiv für Architektur und Ingenieurbaukunst NRW (A:AI), einer Einrichtung der von ihm mitgegründeten Dortmunder Universität. Über 15 Jahre (1969 – 1985) wirkte er hier als Spiritus Rector des Dortmunder Modells, entwickelte, forschte zusammen mit Kollegen, Mitarbeitern und Studierenden – und plante mit eigenem Büro ab 1955 hauptsächlich von Münster, später auch von Düsseldorf (1973 – 97) und weiteren Dependenzen in Stuttgart, Dortmund und Potsdam aus umfangreich in der Region, in Nordrhein-Westfalen, zunehmend in der gesamten Bundesrepublik und vereinzelt im internationalen Kontext.

In den 1960er und 1970er-Jahren galt sein auch international wahrgenommenes Büro als eines der meist beschäftigten und vielseitigsten in Deutschland, zahlreiche Aufträgen resultierten aus Wettbewerben. Deilmann wirkte nicht nur als Städtebauer und Architekt, sondern auch als einflussreicher Hochschullehrer, zunächst in Stuttgart (1964 – 69), anschließend in Dortmund, als Preisrichter, als Politik- und Wirtschaftsberater, als Kunstförderer und Berufsvertreter in Verbänden und Kammern sowie als Zeichner und Autor.

Über die Projekte seines 1955 gegründeten Büros hinaus galt das Interesse auch gerade seinen überlieferten Studienprojekten (1946 – 48, TH Stuttgart), die aufzeigen, wie er (beispielsweise orientiert an Leitgebäuden von Schumacher, Bonatz und Eiermann) unterschiedliche Haltungen studiert und sich in Entwurfsübungen versucht. Schon damals ist ihm ein souveräner Strich eigen, vielfach werden Varianten zum Projekt ausgearbeitet, vom Städtebau bis zum kleinmaßstäblichen handwerklichen Detail einer Holztreppe. Deilmann galt schon zu Studienzeiten als begabter Zeichner, auch zeigt sich seine Leidenschaft zum Architekturberuf, den er umfassend versteht.

Seiner Zeit oftmals weit voraus

Ebenfalls untersucht wurden erste Bauten vor der Selbstständigkeit, die Harald Deilmann in verschiedenen Kooperationen in Stuttgart und Münster plante. Mit Rolf Gutbrod und Günther Wilhelm beispielsweise nahm er an Schulbauwettbewerben teil, mit Heinrich Bartmann errichtete er Wohnbauten im Raum Münster, mit Max von Hausen, Ortwin Rave und Werner Ruhnau das Theater in Münster, das zu einem „Manifest des Neubeginns“ wurde: Viele hier gefundene Antworten waren ihrer Zeit weit voraus. Bereits zur Eröffnung im Februar 1956 dieses ersten Theaterneubaus der noch jungen Republik war Deilmann jedoch schon aus dem Architektenteam wieder ausgeschieden. Dank einiger Privataufträge und erster gewonnener Wettbewerbe konnte er sich im September 1955 mit eigenen Büro (Deilmann: „Verantwortung kann man nicht teilen“) selbstständig machen.

Die für ihn lebensprägende Kombination aus forschendem Lehren und praktischem Tun – dem Planen und Bauen – wird von Deilmann gleich zum Berufsbeginn eingeübt. Denn dem Theatererfolg in Münster gehen wichtige Stuttgarter Erfahrungen in den Jahren 1950 – 53 als junger wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Günther Wilhelm voraus. Erste Exkursionen ermöglichen ihm einen Blick in das internationale Baugeschehen (Nordeuropa, Schweiz). Auch die USA werden früh für Deilmann zum wichtigen Vergleichsgebiet. Noch in seiner Assistenzzeit widmet er sich – inspiriert von amerikanischen Forschern – einer Dissertation zum Thema „Raumtypenbildung – Ein Beitrag zur Rationalisierung der Entwurfsarbeit des Architekten“, in der er einen Forderungskatalog mit Entwurfsbeispielen für den Schulbau entwirft.

Typisierung von Gebäuden

Auch wenn die Dissertation letztlich nicht zweitgeprüft wird (und damit nicht zum Abschluss kommt), stellt sie für den Deilmannschen Entwurfsansatz eine belastbare Grundlage dar: Er bekennt sich zur Typisierung von Gebäuden, die eine Grundlagenforschung erfordern, um in einem zweiten Schritt Zeit für das eigentliche schöpferische Entwerfen zu finden:
„Das Wesentliche und Typische bestimmen den objektivierbaren, allgemeinen Anteil des Gebäudes, der zum Geformten, zur Gestalt führt. Das Einmalige, Situationsbedingte und auf die Bauherren- und Architektenpersönlichkeit bezogene Subjektive bestimmen den besonderen Ausdruck des Gebäudes.“ Eine These, die er 1964 in seiner Stuttgarter Antrittsvorlesung „Gebäude – Wesen, Typ, Gestalt“ zum Manifest für eine lebendige Architektur ausbaut. In der Nachfolge von Hans Volkart richtet er eine systematische Gebäudelehre ein, die später zu vielen grundlegenden Publikationen (Fachbücher zu Schul-, Verwaltungs-, Gesundheits-, Wohnbauten, u.a.) führt. Das Wort „Gestalt“ wird zur zentralen Vokabel, sein Appell „Bauen mit Gestalt“ verweist auf Vertreter des organischen Bauens wie Hugo Häring oder Hans Scharoun, deren Forderungen er nahesteht, gerade in einem Umfeld, das häufig genug (damals wie heute) eher zu schematischen, monotonen und rein funktionalen Varianten neigt.

Vorliebe für Solitäre

Nahezu durchweg versucht Deilmann seinen Entwürfen eine unverwechselbare Gestalt zu verleihen – mit den „Möglichkeiten der Gegenwart“. Viele Bauten der Boomjahrzehnte entstanden als Solitäre. Durchgängig lassen sich jedoch im Werkkatalog Deilmanns auch Bauten in historischem Zusammenhang finden: Bauten, die sich einpassen, die weiterführen oder neuschöpfen; ob ein Wohn- oder Geschäftshaus (Volkwohlbund Münster, 1967) oder ein Museum (Clemens-Sels-Museum neben einem alten Stadttor in Neuss). Den Gebäuden liegen vielfach genaue Ortsstudien zugrunde, und sie lösen zumeist den Alt- oder Neu-Konflikt, indem sie nicht den starken Kontrast suchen, sondern zur Synthese verbinden.

In der Beschäftigung mit Harald Deilmann lassen sich viele Grundthemen finden, die uns bis heute beschäftigen: Fragen zum Berufsverständnis des Architekten, zur Rolle des Bauherrn, zu den Zielen und Reformen in der Architekturausbildung, zum Wettbewerbswesen, zu politischen Rahmenbedingungen, zu den Forderungen nach Architekturvermittlung, Bürgerbeteiligung und Denkmalschutz. Viele Entwicklungen hat er kritisch begleitet und immer wieder festgestellt, wie sehr sich Fragestellungen auch wiederholen – und es dennoch wert sind, sich für bessere Bedingungen zu engagieren, da sie erst den Rahmen setzten, um Architektur als Zeugnis ihrer Zeit gestalten zu können.

Die Arbeit widmet sich abschließend dem Aalto-Theater in Essen, das Deilmann posthum im Sinne Alvar Aaltos errichtet. Aaltos Entwurf war 1959 als Gewinner aus einem Wettbewerb hervorgegangen. Erst Ende der 1970er-Jahre mehren sich die Stimmen zum Bau. Deilmann aktualisiert den Entwurf nach neuen technischen und gesetzlichen Erfordernissen, ohne ihn jedoch sichtbar zu verändern. Mit diesem Projekt stellt sich Deilmann nochmals in den Dienst desjenigen Architekten, dem er – auch nach eigenem Bekunden – am meisten Inspiration verdankt. Der Bau ist zeitlos gültig – dank seiner Ausdruckskraft und seines Formwillens. Einem Anspruch, den auch Deilmann verfolgt hat. So manchem Deilmann-Bau wäre diese Nachbetrachtung auch in Zukunft zu wünschen. Stefan Rethfeld

6.10.2013 – Stefan Rethfeld