Stipendien

Ernst Neufert – Der Architekt

Patricia Merkel promoviert über Leben und Werk des Architekten Ernst Neufert. – Ihr erster Zwischenbericht

10.11.2011

Es wäre nicht ganz richtig, Ernst Neufert (1900 – 1986) als einen Unbekannten unter den Architekten des 20. Jahrhunderts zu bezeichnen. Aber auch wenn innerhalb der letzten Jahre einige seiner Gebäude vereinzelt wohltuend saniert wurden und damit dem Architektur-Gedächtnis erhalten bleiben, ist dennoch festzustellen, dass sein Leben und gebautes Werk zunehmend in Vergessenheit geraten sind. Dementsprechend blieben umfassende kritische oder wissenschaftliche Auseinandersetzungen, sowohl mit dem Leben Neuferts als auch mit seiner Architektur, bislang aus. Selbst eine vollständige Werkliste besteht nicht. Explizit die frühen und prägenden 1920er- und 1930er-Jahre mit den großen geschichtsträchtigen Stationen wie Weimar, Dessau und Berlin werden in der bisher vorliegenden wissenschaftlichen Literatur kaum behandelt – und wenn, dann spielt er hier nur eine beiläufige Rolle.

Auch wenn Ernst Neufert in der Architekturgeschichte nicht gänzlich unerforscht ist, erscheint er gerade im Vergleich zu seinen Zeitgenossen als eher marginale Position. Er wird selten als Architekt thematisiert, was angesichts seines umfassenden Werkes erstaunlich ist, betrachtet man seine Gebäude insgesamt: Typologisch vielfältig reichen sie von kleinen Villen über Büro- und Institutsbauten bis hin zu komplexen Industriebauten, die in einem Zeitraum von mehr als vierzig Jahren – von Mitte der 1920er Jahre bis Ende der 60er Jahre – im nahezu gesamten Bundesgebiet und darüber hinaus in Frankreich, Finnland und der Schweiz entstanden sind. Allein angesichts dieser Tatsache muss man in Neufert einen außergewöhnlich facettenreichen Architekten suchen, der sich meistens einer sehr sachlichen Formensprache bedient, die in ihrer äußerst zurückhaltenden Weise einen besonders konzentrier-ten Blick auf ihre Gestalt und Gestaltung fordert.

Zahlreiche dieser Gebäude, besonders die aus den 1950erJahren, sind noch erhalten, aber auch einige Werke aus den 30er Jahren sind nicht nur ertüchtigt oder saniert, sondern auch in ihrer ursprünglich entworfenen Funktion erhalten oder modifiziert und stehen unter Denkmalschutz. Um hier nur einige zu nennen, gehören dazu vor allem das Mathematische Institut (Abbeanum) der Universität Jena und das Studentenhaus der Universität Jena (jeweils 1929–30). Beide waren damals mit dem „Aktiven Bauatelier“ der Staatlichen Bauhochschule Weimar und dem damaligen Direktor der Schule, Otto Bartning (1883–1959), entstanden. Außerdem ist hier das Ledigenhaus in Darmstadt (1952/55) zu erwähnen, das als eines der „Meisterbauten“ verwirklicht werden konnte. Nicht zuletzt auch durch den sensiblen Umgang mit der ursprünglichen Bausubstanz veranschaulichen diese Beispiele heute noch in beeindruckenderWeise die Aktualität von Neuferts Architektur.

Die Rezeption seiner Person erschöpft sich bislang zumeist in der populistischen Erzählung von Anekdoten und muss deshalb dringend einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung weichen. Damit wird auch die stigmatisierende Darstellung, die Neufert fortwährend als Normierer, Technokrat, Standardisierer, Reglementierer oder gar als Ordnungsfanatiker beschreibt, das Feld räumen müssen. All diese Beschreibungen verdanken sich in erster Linie der bisher einseitigen Einschätzungen Neuferts, die sein gesamtes Werk auf die Bauentwurfslehre von 1936 reduzieren. Auch der lang thematisierte, im Nebel liegende Verdacht möglicher Machenschaften zur Zeit des Dritten Reiches, in den Neufert aufgrund seiner Zusammenarbeit mit Albert Speer in Berlin geriet, mag – aus heutiger Sicht ein nicht nachvollziehbarer – Grund dafür gewesen sein, dass eingehende Untersuchungen seines Lebens und Werkes aus einer anderen Perspektive noch ausstehen.

Die durch die Stiftung Deutscher Architekten geförderte Dissertation gliedert sich in zwei Teile: Sie unternimmt zum einen den Versuch, besonders die frühen Erlebnisse und Begegnungen Ernst Neuferts zu suchen, durch die enscheidende Weichenstellungen in der Entwicklung seiner Architektursprache stattfanden, und diese in einen nachvollziehbaren historischen Kontext zu stellen. Ein Aspekt dazu soll die Betrachtung der Einflussnahme berühmter und in der Architekturhistorie bereits etablierter Zeitgenossen wie beispielsweise Walter Gropius (1883 – 1969) oder Johannes Itten (1888 – 1967) sein, um schlussendlich den Stellenwert Ernst Neuferts neu etablieren zu können. Zum anderen soll die Erarbeitung einer Werkliste dieses vielfältigen Architekten Aufgabe der Dissertation sein.

Spätestens durch die Herleitung und Gegenüberstellung mit den jeweiligen Inspirationsquellen seiner Gebäude muss Neufert als eine attraktive, kreative Architektenpersönlichkeit seiner Zeit gesehen werden, deren wissenschaftliche Relevanz außer Frage steht – und deren Verschwinden aus der Architekturhistorie unbedingt verhindert werden muss.